Tyr.

Er hasste es.
Er hasste es, in die Schule gehen zu müssen, wo ihn die merkwürdigen Blicke verfolgten und ihn die mitleidgen Blicke des Lehrkörpers durchbohrten, sobald die Sprache auf den Jungen fiel, der vor ein paar Jahren seine Eltern verloren hatte. Es ging ihm gegen den Strich, dass er mit jüngeren Leuten in der Klasse war, die meinten, dass es ihm gut tun würde, wenn er mehr soziale Kontakte pflegte, indem man ihn zu Partys einlud und an anderen Veranstaltungen dabeihaben wollte. Der junge Mann musste seinen Klassenkollegen hoch anrechenen, dass sie es weiterhin versuchten, ihn in die Gemeinschaft einzugliedern, aber er wehrte jeden noch so schwachen Versuch ab, sodass er immer der freiwillige Außenseiter blieb, bei dem man hin und wieder die Mathe-Hausaufgabe abschrieb oder sich zu ihm an den Tisch setzte, wenn man seine Ruhe haben wollte und lernte. Er würde niemanden ansprechen, wenn man ihn nicht mittels Wortenn auf sich aufmerksam machte. Hatte er noch nie und würde er auch in Zukunft nie machen. Obwoh.... er wusste nicht einmal, wieso er so reserviert der Menschheit gegenüber war. Ach nein, da war doch mal was: Hier konnte jeder verdammte Mensch ein Jäger sein, der seinesgleichen jagte und schlussendlich unter Qualen zu Grunde richteten.
Unterm Strich war also sein Misstrauen gerechtfertigt. Zumindest seiner Ansicht nach und das war so oder so die einzige, die für den jungen Mann zählte. Demnach wirkte er auch sichtlich gelangweilt, als er in einer der letzten Reihen saß, aus dem Fenster starrte und wurde erst aus dem Anblick gerissen, als sich die Klassentür öffnete und ein Mädchen hereingeschlichen kam, den Lehrer ignorierte und lieber durch die Reihen schlich. Was hatte sie denn vor? Sein Blick wanderte durch die Klasse, als der Blick auf dem leeren Sessel neben ihm hängen blieb und er aufstöhnte. Hatte ihm doch gerade noch gefehlt. Nun hatte er eine Neue neben sich sitzen, die wahrscheinlich von den ganzen Leuten hier umschwärmt wurde, weil sie alles von ihr wissen wollte. So waren die Leute hier, erpicht auf jegliche Neuigkeiten. Naja... Dorfbewohner eben.

Tyr.

Anscheinend hatte er lang genug das Privileg des Einzelplatzes genießen dürfen, denn letztes Jahr hatte niemand den Platz neben sich belegt, was ihm immer recht angenehm war und sich auch nicht hätte ändern müssen. Als nun aber das Mädchen durch die Reihen anmarschiert kam und von seinen Klassenkameraden unverhohlen betrachtet wurde, begann auch ers sie prüfend zu mustern. Hünsch war sie auf jeden Fall, denn ihre fein geschnittenen Gesichtszüge wurden nicht von tonnenhaft viel Make-up verdeckt, sodass sie wie eine künstliche Barbiepuppe wirkte. Das gefiel ihm durchaus, aber sobald sie neben ihm saß, wandte er den Blick wieder ab, denn zu viel Neugier zu zeigen, war niemals gut. Dadurch wurden die Menschen gesprächig udn fühlte sich bestätigt. Grausam, diese Floskeln, die man ihm dann aufzwang, damit er ein gesundes Sozialleben vorgaukeln konnte. Die Lehrer machten sich Sorgen um ihn, sodass sie sogar einmal seine Tante benachrichtig hatten. Sowas passierte nur, wenn man in einem kleinen Kaff die Schule besuchte. Wo anders wurde man nicht einmal als Individuum bemerkt. Hier lief allgemein vieles anders, über das er sich nun aber keine Gedanken machen brauchte, denn die Neue schien darauf aus zu sein, eine Bekanntschaft mehr zu sammeln.
Noch war der junge Mann diesem einsilbigen Verhalten nicht abgelehnt, weshalb er sich dazu hinreißen ließ, auch seinen Namen zu verraten: "Mein Name ist Tyr." Die Antwort fiel ebenso kurz und prägnant aus. Jaja. Sein Name war selten und man bekam ihn kaum zu hören, was wohl daran lag, dass er nach einem alten Gott des Kampfes und noch irgendwas benannt wurde. So abgedreht waren eben seine Eltern gewesen... oder besser gesagt seine Mam, der er den Namen zu verdanken hatte. Das Lächeln jedoch nahm er einfach mit einem kurzen Nicken zur Kenntnis. "Von wo kommst du?" Gewisse Fakten mussten für ihn von Anfang an geklärt werden und zur Beantwortung brauchte man auch keine spezielle Bindung zu dem Menschen, den man gefragt hatte.

Tyr.

Seattle war hier in der Nähe, also falls man sagen konnte, dass überhaupt etwas in der Nähe dieses Kaffs war, dann wohl die große Stadt, die immer wieder aufsehen erregte. Und das nicht immer mit positiven Neuigkeiten, denn die Bandenkriminalität, sowie der Drogenkonsum waren in der Großstadt echt zum Problem geworden. Woher der junge Mann das wusste? Er interessierte sich nun mal für seine Gegend, in der er lebte und die bisher immer seine Heimat war. Obwohl Seattle die nächste Stadt hier im Umkreis von vielen Kilometern war, zog es ihn noch nie aus diesem Dorf heraus, denn hier war er geboren wurden, hier wuchs er auf und hier würde er auch sterben. Vielleicht früher, als er beabsichtigte, aber im Grunde stand fest, dass er seinen letzten Atemzug hier in der verrtauten Idylle machen wollte. Klang makaber, aber wenn man einem Zirkel angehörte, der noch dazu verfolgt und gejagt wurde, musste man sich mit solchen Gedanken früh auseinandersetzen und sich im Klaren sein, was man für ein Leben führte. Tyr fühlte sich zumindest vorbereitet, sollte auf einmal eine Kugel oder ein scharfer Dolch seine Brust durchlöchern.
Aber diese Gedankekn gehörten eindeutig in keinen Schulklasse, sodass er diese schnell beiseite drängte und sich nicht länger damit aufhalten wollte. "Ja. Mein ganzes Leben" bestätigte er dem Mädchen und wusste nicht so recht, ob Alexis nun auf weitere Auschweifung hoffte oder sie nähere Informationen bezüglich der Einwohner, der Sitten oder Bräuche haben wollte. Wenn doch, dann musste sie ihn das noch einmal genauer fragen, denn für ihn war das hiermit abgeschlossen und er richtete sich wieder mehr auf den Lehrer ganz vorne vor der Klasse, der sich noch um ein paar organisatorische Dinge kümmerte. "Und übrigens... du kannst ruhig Kaff zu diesem Dorf sagen" stellte der junge Mann mit einem belustigten Unterton klar, zeigte aber weiterhin kein Lächeln, denn so amüsant war es nun auch wieder nicht.

Tyr.

Das Mädel ließ sich einfach nicht abwimmeln, war wohl von der hartnäckigen Sorte, also passte sie von dem her ausgezeichnet in das Dorf, denn hier gab es so gut wie keine Privatsphäre. Wenn man einmal ein schroffes Wort gesagt hatte, konnte man sicher sein, dass es der Nachbar des Nachbars schon wusste, bevor die Person, an die die Worte gerichtet waren, zum Konter ansetzte. Aber so war es in einem kleinen Kaff eben: jeder kannte jeden und die Gerüchteküche war stets am Prodeln. Irgendwie sehr angeneh, denn dadurch konnte man behaupten, dass immer was los war, aber es wurde erst unschön, wenn sich die Gerüchte auf einen selbst bezogen. Der junge Mann wollte gar nicht wissen, was man hinter seinem Rücken so über ihn redete. Er konnte nicht einmal einschätzen, ob esüberwiegend positive oder mehr negative Geschichten über den armen Waisen zu erzählen gab. Manchmal würde er durchaus gerne Mäuschen spielen, aber dabei ertappte er sich nur sehr selten, fast gar nicht. Durch seine Existenz war er es gewohnt, als Sonderling in der Gesellschaft erkannt zu werden, was schon seit er denken konnte so war. Und wieso sollte man Altbewährtes auf einmal ändern?
Ihm fiel kein guter Grund ein, weshalb er auch nicht einsah, dass er sich ändern sollte, damit das Gerede aufhörte und es war schließlich nicht so, dass Tyr das Gesprächsthema Nummer eins hier in der Dorfgemeinschaft war. Vielleicht in der Vergangenheit wegen dem Unfall, aber mittlerweile sollte auch hier Ruhe eingekehrt sein und die Sensationsgeilen unter den Bewohnern dürften sich bald auf die neu hergezogene Familie stürzen.Da musste man sich doch einfach wohl fühlen.
"Schauermärchen? Bist du nicht etwas zu alt für solche Geschichten?" Schon langsam amüsierte sie ihn, was nicht viele schafften, aber wie sollte er auch mit solchen Fragen rechnen, wenn er sie eher darauf eingeschätzt hatte, dass sie ihn nach dem nächsten Einkaufcenter fragen würde oder wo man hier Party machen konnte. Aber nein... es kamen Fragen über verwunsche Wälder und verhexte Häuschen. Interessant. Augenblicklich war sein Misstrauen geweckt worden, was er sich gekonnt nicht weiter anmerken ließ, sondern so tat, als würde er wirklich darüber nachdenken. "Verhexte Häuser haben wir nicht zu bieten, aber angeblich soll es in einem Teil des Waldes spuken und von Geistern nur so wimmeln." Das erschien ihm als ungefährlich genug, um es erwähnen zu können, denn welches Dorf hatte denn nicht einen an der Klatsche und glaubte an irgendeinen Waldgeist, Troll oder Heinzelmännchen? Es gab immer irgendwas.

Tyr.

HIer gingen ihre Meinungen definitiv auseinander. Der junge Mann war schon immer ein Teil dieser Schauergeschichten gewesen und musste sich im Kindergarten anhören, dass es böse Hexen gab, die unartige Kinder in der Nacht verschleppten, weil sie ihr Gemüsen icht brav aufgegessen hatten oder die Albträume von gemeinen Geistern geschickt bekamen, weil sie nicht schlafen gehen wollten, wenn die Eltern es am Abend sagten. Es war überhaupt eine Frechheit, dass man die magischen Wesen immer als die Bösewichte hinstellte, denn wenn man sich ganz ehrlich sein wollte, dann tat einem keine Hexe was zu leide und er wusste genau, wovon er sprach, immerhin lebte er mit ein paar zusammen. Natürlich waren sie alles andere als normal, jede hatte ihren eigenen Tick, der sie besonders werden ließ, aber an Menschen vergriffen sie sich kaum. Hin und wieder, wenn ein besonderer Feiertag für den Zirkel bevorstand holten sie sich eine Schnapsdrossel oder einen Verbrecher aus der Gemeinschaft, dessen Ableben zwar zum Skandal des Monats werden würde, aber unterm Strich hatte niemand etwas dagegen, wenn solch ein Trunkenbold oder Dieb aus den eigenen Reihen verschwand. Und diese Menschenopfer wurden zumindest bei dem Zirkel, in dem auch Tyr ein Mitgleid war, so gering wie möglich gehalten, um kein Aufsehen zu erregen. Sie waren hier einer der ältsten Waldzirkel, die es in der Umgebung gab, was schon mal was heißen sollte, denn genauso viele Hexenjäger hatten sie bereits überlebt.
"Wenn du meinst" gab der junge Mann dann eben mit einem kurzen Heben der Schultern nach, denn sowas machte ihm nicht viel aus. Er beharrte selten auf solchen Lächerlichkeiten, ob man nun zu alt für Schauergeschichten werden konnte. Im Grunde waren es ja keine Geschichten, sondern wahre Begebenheiten, von denen die Menschen berichteten, aber welcher rational denkende Mensch glaubte heutzutage noch ans Übernatürliche? Wer gab sich noch dem Glauben des Mittelalters hin, dass wirklich Hexen und Hexer unter den normalen Menschen wandelten? Kaum jemand würde bei diesen Fragen freiwillig die Hand heben und sich outen... bis auf Jäger. Er kam nicht mehr von dem Gedanken los, dass diese Alexis die falschen Fragen stellte, dafür, dass sie noch nicht allzu lange in dem Kaff hier lebte.
"Für außerirdische Menschen kommen die Geister auch zu Mittag raus" spottete er mit rauer Stimme und ließ den Sarkasmus deutlich raushängen. "Aber nein... die Geister kommen lediglich in der Nacht und an nebligen Herbsttagen aus ihren Verstecken, wenn man wegen der vielen Dunstschwaden keinen Meter weit sehen kann." Tyr ließ sich auf das Gespräch ein, blieb aber bei seinen kargen Antworten.

Tyr.

War gerade das Eis gebrochen worden oder was genau war passiert? Er konnte sich nicht genau erklären, wieso das Mädchen auf einmal zu schmunzeln begann, denn so lustig war seine Entgegnung nun auch wieder nicht gewesen, zumindest wenn man ihn fragte. Dennoch fand er es irgendwie erfrischend, dass Alexis zu schmunzeln begann und ebenfalls auf die Sache mit den Geistern einging. Von allen anderen hier in dem Raum hätte er nur einen genervten Blick geerntet, weil die sich schon viel zu cool für derartigen Geschichten waren, aber das lag wohl auch daran, dass sie insgeheim doch noch daran dachten, dass ein kleiner Funken Wahrheit in den ganzen Erzählungen steckte. Wer konnte ihnen denn auch wirklich sagen, dass dem nicht so war? Nun war auch seine Interesse schwach geweckt worden, weshalb er sich nun auch mit seinem Oberkörper leicht zu dem Mädchen drehte und nicht nur immer wieder mit dem Blick den ihren suchte, aber schlussendlich mied er den Augenkontakt doch. Das war etwas viel zu Intimes, was er nicht leiden konnte, weshalb er eher durch den Menschen hindurchschaute oder etwas anderes mit seinen Augen ins Visier nahm.
"Ein paar Quälgeister sind mir schon begegnet, aber ansonsten kann ich kaum was dazu sagen" berichtete Tyr halbherzig, zuckte erneut mit den Schultern und wuschelte sich dieses Mal aber gleichzeitig durch die etwas längeren, rabenschwarzen Haare, die ihm gerne mal vor die eisblauen Augen hingen. "Ein Café findest du direkt neben der Schule und das andere ist etwas weiter außerhalb bei dem Baggersee zu finden. Bibliothek haben wir hier keine, aber eine kleine Bücherei, wo es sogar einen PC mit Internetanschluss gibt." War er hier die Toruistenauskunft oder was?

Tyr.

Für ihn war es manchmal wirklich ein einziges Trauerspiel, dass er damals wegen seinen eigenen Verletzungen so lange im Krankenhaus liegen musste, sodass es unmöglich war, das Jahr erfolgreich zu bestehen und er deshalb die eine Klasse wiederhlen musste, sodass er nun hinten nach war. Er fühlte sich meistens um so vieles reifer und erwachsener, dass er in der Gruppe hier einfach nur die Krise bekam, wenn sie wegen irgendwelcher kindischer Angelegenheiten zu streiten begannen. In den Fällen ist er dann wieder ganz glücklich darüber, dass er kaum Kontakt zu den anderen pflegte und dadurch fein aus dem Schneider war, sollte man wieder solch ein interner Krieg ausbrechen. Irgendwie kam es ihm unterm Strich immer zu Gute.
Außer, wenn es bedeutete, dass es Gruppenarbeiten gab, denn da blieb der junge Mann immer übrig. Wie sollte es denn auch anders sein, wenn er am liebsten und eigentlich immer alleine einen Tisch für sich beanspruchte, weshalb es ihn auch nicht gekränkt hatte, als der Blick sofort zu ihm gewandert war, als es hieß, dass man in Zweierteams zusammengehen sollte. Die Lehrerin musste sich wohl auch erst daran gewöhnen, dass er ab nun eine Partnerin für solche Projekte hatte. Alexis und er entschieden, dass sie sich mit dem ganzen Papierkram einmal in eines der beiden Cafés, das das näher bei der Schule lag, hinsetzen und das durchgingen. Bisher störte ihn noch nichts daran, dass er mit dem Mädchen zusammenarbeiten sollte, aber wer wusste schon, wie lange sie noch beide an einem Strang zogen und Ruhe bewahrt wurde. Er kannte sie nicht, wusste nicht, wie sie solche Dinge anging.
"Ich hätte gern ein Glas Wasser und einen Toast" gab auch Tyr seine Bestelung auf und wandte sich wieder den vielen Zetteln, die auf dem kleinen Tisch so gut es ging ausgebreitet lagen, zu. Unter anderem war dort auch das Blatt mit den Anforderungen an die beiden, die sie zu erfüllen hatten. Schnell überflog er die Aufgabenstellung und nickte dann kurz. "Wir sollen also eine Art Tour durch die Gegend organisieren oder eine Broschüre machen, in der die aufgelisteten Denkmäler gezeigt und ausführlich beschrieben werden. Geschichtliche Hintergründe, Widmungen, Daten und so Kram."