Joshua

Wie ein toter Vogel wurde ich an den bekrallten Beinen herumgetragen, mein weiß gefiederter Kopf hing schlaff nach unten, genauso wie meine riesigen Schwingen. Die Wirkung des Betäubungsmittels oder Versuchsmittels oder was auch immer sie mir dieses Mal gespritzt hatten, ließ langsam aber sicher nach. Zumindest wurde meine Sicht durch die halb geöffneten Vogelaugen etwas klarer. Mein Schnabel war leicht geöffnet, meine Kehle fühlte sich trocken an und mein Verstand war absolut benebelt. Dass wir an der Nachbarzelle vorübergingen, in der neuerdings ein Neuling war, bemerkte ich nicht einmal wirklich. Das Gitter wurde geöffnet und immerhin schmissen sie mich nicht auf den Boden, sondern legten mich halbwegs vorsichtig auf eine Decke, die am Boden lag. Ich hörte noch, wie das Zellengitter wieder geschlossen wurde, wie sich Schritte entfernten und wie dann wieder Stille einkehrte. Ich wollte mich in meine menschliche Gestalt zurückverwandeln, schaffte es aber nicht. Noch fehlte mir die Kraft dazu und wer wusste schon was sie mir eingeflößt hatten, um die Verwandlung hinauszuzögern. Diese Leute scheuten sich ja vor gar nichts.
Es verging sicherlich eine viertel Stunde, in der ich einfach auf dem Rücken lag, die großen gefiederten Schwingen schlaff links und rechts neben meinem Körper liegend und in der mein Körper gegen das Zeug in meinem Körper ankämpfte. Irgendwann schaffte ich es, mich auf den Bauch zu drehen, sowohl Klauen unter mir zu sortieren und die Flügel anzuziehen und an den Vogelkörper zu legen. Den Kopf hatte ich angehoben, schaute mich benommen um, aber in meinem kleinen Gefängnis war alles wie zuvor. In dem Käfigtrakt rechts von mir war ein alter Mann, der sich in einen Marder verwandeln konnte, aber wie so oft schlief er. Die linke Zelle war bisher immer frei gewesen- zu meiner Überraschung war sie jetzt allerdings besetzt. Eine junge, durchaus hübsche Frau lag darin, hatte sich aber halb sitzend an die Wand hinter sich gelehnt. Was sie wohl war? Scheinbar war sie aber auch noch nicht allzu lange hier, denn ihr Blick war ebenso noch leicht benommen, zudem huschten ihre Augen suchend, irritiert und vielleicht auch ein wenig ängstlich umher. So genau konnte ich ihren Blick nicht deuten, aber den meisten Wesen, die hier drin landeten, erging es nicht anders. Meist kam irgendwann die Angst dazu.

Joshua

Träge drehte ich meinen Kopf ein wenig zur Seite, nur um schließlich zu sehen, dass die junge Frau genauso wenig Erfolg dabei hatte hier rauszukommen wie alle anderen zuvor auch schon. Es war regelrecht vergeblich. Man konnte diesen Leuten versprechen was man wollte, sie gingen nicht darauf ein. Ich beobachtete ihre vergeblichen, beinahe ein wenig lächerlichen Versuche ein paar wenige Minuten lang, bevor ich es tatsächlich schaffte, mich in meine menschliche Gestalt zurückzuverwandeln. Mir schmerzte der ganze Körper von oben bis unten von diesen ganzen Torturen, aber ich durfte nicht aufgeben. Und das würde ich auch niemals tun. Irgendwann würde ich schon noch hier wegkommen. Die Frage war nur wann und vor allem wie. Allerdings musste ich hier noch rauskommen, bevor sie ein psychisches und physisches Wrack aus mir gemacht hatten. Ich vermisste es, das tun und lassen zu können was ich wollte. Ich vermisste es, durch die Lüfte zu fliegen und den Wind in meinen großen gefiederten Schwingen zu spüren. Nur jetzt blieb keine Zeit für solche Gedanken. "Versuch' es erst gar nicht. Sie werden nicht drauf eingehen. Und umso mehr du sie nervst, umso schlimmer wird es" gab ich mit rauer, leiser Stimme von mir und rappelte mich auf, ehe ich mich an die Wand lehnte und nach der Decke griff, die ich mir anschließend um die Schultern legte. Hier drin war es meistens ziemlich kühl und die ständigen gezwungenen Verwandlungen und mein mitgenommener Körper ließen mich oft frieren. Es war schlichtweg unangenehm. "Wer bist du eigentlich?" wollte ich nach einigen Minuten doch ein wenig neugierig von ihr wissen, nachdem ich sie mit meinen unterschiedlich farbigen Augen neugierig und aufmerksam gemustert hatte.

Joshua

Ob sie sich meine Worte zu Herzen nehmen würde und verstehen würde, dass es das Beste sein würde, wenn sie einfach ihren Mund halten würde? Es wäre nicht nur für sie das Beste, sondern auch für alle anderen Gefangenen hier. Wenn sie diese Leute weiterhin nerven würde und sie möglicherweise sogar provozieren würde, dann würde das nicht nur auf sie zurückfallen, sondern auch auf mich und den alten Mann und die anderen, die hier gefangen gehalten wurden. Hoffentlich war das also ein ernsthaftes Nicken gewesen und keines, das sie einfach nur getan hatte, um mich ruhig zu stellen.
Einige Momente lang ruhten meine unterschiedlich farbigen Augen auf ihren, während wir uns gegenseitig einer neugierigen Musterung unterzogen. Immerhin schien sie sich nicht davor zu zieren, mir ihren Namen zu verraten. "Joshua" erwiderte ich mit rauer Stimme und unterdrückte ein Gähnen. Diese ganzen Torturen waren dermaßen anstrengend, dass ich mich am liebsten an Ort und Stelle einrollen würde, um einzuschlafen. Wahrscheinlich würde mich die Kälte aber davon abhalten, so schnell einzuschlafen, wie ich es mir wünschen würde. Vielleicht sollte ich mich wieder in meine Adlergestalt verwandeln, andererseits fehlte mir dazu jetzt eigentlich die Kraft. Müde fuhr ich mir mit den Händen übers Gesicht, bevor ich meine Augen wieder auf die neue Zellennachbarin richtete. "Was bist du für ein Wesen?" wollte ich schließlich von ihr wissen, neigte den Kopf ein klein wenig zur Seite- eine Angewohnheit, die ich auch in Adlergestalt zeigte.

Joshua

Keine Antwort auf meine Frage. Ich verstand zwar nicht warum, aber nunja. Wahrscheinlich war der jungen Frau momentan sowieso alles ein wenig zu viel, was ich auch verstehen konnte. Mir war es nicht anders ergangen, als ich hierher gekommen war. Theodore, der alte Mann, der sich in einen Marder verwandeln konnte, war mir eine große Hilfe gewesen, hatte mir viel Mut zugesprochen und hatte mir beigestanden, obwohl er selbst über diese schreckliche Situation untröstlich war. Er vermisste seine Frau und das nun schon viel zu lange. Er war schon Jahre hier. Und er wusste noch nicht einmal, ob sie noch lebte. Er wusste gar nichts. Genauso wie ich. Wir waren komplett abgeschnitten von der Außenwelt. Ich vermisste es, durch die Lüfte zu fliegen, aber das waren alles nur Sehnsüchte und Träume, die mir nicht erfüllt werden würden. Man würde mir den Gefallen nicht tun, mich und Theodore freizulassen. Am Anfang war ich halb verrückt in dem viel zu kleinen Käfig geworden, der nun mehr oder weniger und leider gezwungenermaßen mein Zuhause darstellte. Ich wusste nicht einmal mehr so richtig, wie es sich anfühlte zu fliegen. Hier drin war kein Platz um Flügelschwünge zu machen, ich würde an allen Ecken und Kanten dieser Käfigzelle anstoßen. Im Hauptlabor wäre genug Platz nach oben, der Raum glich eher einem Saal und hatte eine hohe Decke, aber die Versuche wegzufliegen hatte ich schon längst aufgegeben. Entweder sie hatten mich nach einer Minute mit einem Betäubungspfeil runtergeschossen oder mir schon vorher mit einer Spritze irgendeine Flüssigkeit in die Adern gejagt.
Die Frage der jungen Wandlerin- sie war zu hundert Prozent eine, sonst wäre sie gar nicht erst hier- ließ mich sie anschauen, wobei ich nicht sofort antwortete. "Inzwischen fast ein ganzes Jahr. Theodore.." - ich deutete hinüber zu dem schlafenden, alten Mann- ".. er ist schon fast drei Jahre hier. Er ist mit Abstand am längsten von uns allen hier."

Joshua

Ja, sie hatte richtig gehört. Ich erzählte ihr keine Lügenmärchen, das war die Wahrheit. Warum sollte ich die Wahrheit auch nicht erzählen? Sie würde selbst merken, dass es schwierig sein würde hier auch nur irgendwas zu bekommen. Oder gar von hier wegzukommen. Glaubte sie, ich hätte es nicht auch schon versucht? "So gut wie, ja" wiederholte ich und zuckte dann leicht mit den breiten Schultern, während meine verschiedenfarbigen Augen auf ihr ruhten, als sie auf den Boden zu ihren Füßen starrte. Ja, hier drin war es alles andere als ein Zuckerschlecken.
Als die junge Wandlerin dann von mir wissen wollte, ob diese Leute hier zur Regierung gehörten oder wer auch immer sie waren, war ich schon versucht den Mund aufzumachen um ihr eine Antwort zu geben, aber dumpfe Schritte, das Piepen, eine sich öffnende Tür und anschließend erneute Schritte ließen mich meine Meinung abrupt ändern. Sie sollte jetzt bloß ihren Mund halten. Ich schaute sie eindringlich an, schüttelte kaum merkbar den Kopf, während die Schritte sich immer mehr näherten. "... gleich damit anfangen. Umso früher, umso besser." Nicht nur eine Person, sondern zwei. Entweder, sie brachten uns Essen, was angesichts der Worte eher unwahrscheinlich war- oder, sie würden einen von uns mitnehmen. Nein. Nicht schon wieder mich. Und auch nicht Theodore. Niemanden von uns. Sekunden später standen die beiden in Laborkittel gekleideten Männer vor den Zellen. Kurz ruhte deren Blick auf mir, dann galt die Aufmerksamkeit allerdings der jungen Frau in dem Käfig neben mir. "Da haben wir ja unseren Neuankömmling. Hast du dich schon gut eingelebt? Bekanntschaften geschlossen? Schön."

Fiona

Als zwei Männer vor meiner Zelle stehen blieben, schluckte ich nervös und rappelte mich auf. Es waren ein ziemlich dünner und ein etwas kompakterer Typ. Beide grinsten mich hämisch an und hatten ein irres Glitzern in den Augen. Trotzig reckte ich das Kinn. "Alles bestens." Ich verkniff mir meine Kommentare und schaute sie nur finster an. Ich würde sicherlich nicht kooperieren mit diesen Leuten. Von mir würden sie nichts erfahren.
Der Dünne trat näher an meine Zelle, schloss diese auf und ließ den Dicken an sich vorbei. Dieser packte mich am Oberarm und zerrte mich regelrecht mit sich. Widerstand leistete ich keinen. Vielleicht war der Boss von diesen Männern etwas umgänglicher. Bestimmt konnte man noch etwas auszuhandeln, auch wenn ich nicht wüsste, was er von mir wollen könnte. Abgesehen von mir als Versuchskanninchen. Sein Griff um meinen Oberarm war so fest, dass ich davon sicherlich noch blaue Fleckek bekommen würde. Als wir an der Zelle von Joshua vorbeigingen, warf ich diesem noch ein halbes Lächeln zu, was so viel wie "Ich werde brav sein" bedeuten sollte. Wir passierten zwei weitere Türen, alle konnten nur durch Codes geöffnet werden, bis wir schließlich vor einer massiven Doppeltür stehen blieben. Die beiden Wärter warfen sich einen Blick zu, dann klopfte der Dünne an.
Von innen ertönte ein gelangweiltes "Ja". Der Dicke drückte die Türe auf schubste mich in den nächsten Raum.

Joshua

Ein wenig irritiert beobachtete ich das Geschehen. Konnte durchaus sein, dass diese Leute ihre abscheulichen Tests bei Fiona ausprobierten, aber noch viel wahrscheinlicher war es, dass sie ihr einen Chip verpassen würden, mit dem sie sie wiederfinden würden, falls sie doch aus irgendeinem unerfindlichen Grund abhauen sollte. Jeder von uns hier hatte einen, was gleichermaßen hieß, dass sie Angst hatten, dass wir abhauen könnten. Irgendwo und irgendwie musste es also ein Schlupfloch hier raus geben, die Frage war nur, wie man es fand, um abhauen zu können.
Das leichte Lächeln der jungen Frau wusste ich nicht wirklich zu deuten, ich konnte nur hoffen, dass sie meine Worte ernst nahm. Schläfrig unterdrückte ich ein Gähnen, schaute der jungen Wandlerin und den verrückten Laborleuten noch hinterher, bis ich sie aus den Augen verloren hatte, bevor ich meine Augen schloss und schon bald darauf wegdämmerte. Ich brauchte den Schlaf dringend, ich war müde und ausgelaugt und vermutlich würde es eh nicht mehr lange dauern, bis diese Idioten auf die Idee kamen wieder irgendwas an mir auszuprobieren.

Joshua

Ja, der Schlaf war bitter nötig gewesen. Allerdings hätte ich lieber einen ruhigen Schlaf ohne irgendwelche Träume gehabt, denn in letzter Zeit suchten mich öfters irgendwelche Alpträume heim. Meistens träumte ich wieder und wieder von dem Tag, als diese Laborbastarde mich einfach vom Himmel runtergeschossen hatten.
Eben jener Tag war eigentlich ein ziemlich guter Tag gewesen. Ich hatte gearbeitet, war dann bei meinen Eltern zum Essen eingeladen gewesen und hatte anschließend beschlossen, dass ich noch einen Rundflug durch den Abendhimmel machen würde. Es war ein schöner, angenehm warmer Sommerabend gewesen, ich hatte mich in meine Adlergestalt verwandelt und war vom Boden in die Lüfte abgehoben. Meine großen Schwingen hatten mich zuerst tief fliegend über einen See getragen, bevor ich weiter in die Höhe gestiegen war und dort ein wenig gekreist war. Es hatte gut getan, vor allem um zu entspannen und um den Kopf freizubekommen. Ich hatte es genossen.
Bis ich plötzlich einen stechenden Schmerz in meinem linken Flügel gespürt hatte, mir in Sekundenschnelle schwindelig geworden war und ich regelrecht im benommenen Sturzflug nach unten sackte. Noch bevor ich überhaupt auf dem Boden aufgekommen war, war ich bereits bewusstlos gewesen, deshalb hatte ich ab diesem Zeitpunkt auch keine Erinnerungen mehr. Ab da war jegliche Erinnerung weg. Wie ausgelöscht. Meine Erinnerungen setzten erst wieder ein, als ich hier drin in diesem scheußlichen Käfig aufgewacht war.
Heute träumte ich eben jenen Traum auch. Und wieder wachte ich schweißgebadet auf, auch wenn dieses Mal irgendetwas anders war. Ich fand auch ziemlich schnell heraus was- die Männer von vorhin brachten einen wild gewordenen Wolf zurück in seinen Käfig. In den Käfig neben mir. War das tatsächlich Fiona? Ich wartete, bis die Männer außer Sicht- und Hörweite waren, bevor ich mich langsam zu den Gitterstäben beugte und den Wolf aus meinen verschiedenfarbigen Augen anschaute. "Beruhig' dich" meinte ich mit rauer, ruhiger Stimme und hoffte, dass sie mich wahrnahm.